Wie viel Anregung braucht ein Kind, das im städtischen Umfeld aufwächst und schon im Alltag vielerlei Eindrücke erhält und vielen Stimulierungen ausgesetzt ist?
Ermutigung zum Freispiel, zur Freizeit und zum Müßig sein
Manchmal beobachte ich bemühte Eltern die Angst haben, eine entwicklungspsychologisch sensible Phase zu verpassen. Das kann dazu führen, dass die Kinder zu viel gefördert werden. Ein Kurs jagt den anderen, von Gitarre über Chor, Judo, Fußball oder Leichtathletik, Malen oder sonst etwas Kreatives und natürlich Sprachen – Fördern bis zum Abwinken. Und am Wochenende geht’s ins Museum, Kindertheater oder Konzert. Auch in den Ferien rastet man sich nicht aus, nein, da gibt’s im Winter Skikurse (schließlich kann auch in einem Wiener Kind ein Benni Reichel stecken) und im Sommer sind die Schwimmkurse dran, denn auch das will früh genug gelernt werden und wenn sie endlich groß genug sind, dann geht’s zur Kinderuni, Kinderbusinessweek oder in ein Feriencamp, wo wieder spielerisch zum Lernen angeregt wird. Und der Urlaub soll natürlich auch etwas bieten, ob das nun Naturerlebnisse, Sprach- und Kulturausflüge oder Bewegungserfahrungen sind, die den Horizont des Kindes erweitern sollen.
Der Tenor bleibt: Kinder müssen gefördert werden, sonst bekommen sie später mal keinen Job. Oder können sich nicht voll entfalten: Wer weiß, vielleicht steckt ja auch genau in meinem Töchterchen die Maria Callas von morgen.
Nicht etwa, dass all diese Sachen schlecht oder unnütz oder blöd sind. Trotzdem frag ich mich, wie viel Anregung braucht ein Kind?
Und mehr noch: Wie viel persönliche Gestaltungsfreiheit bleibt dem Kind bei all diesen Anregungen?
Denn das ist für mich der springende Punkt: Nur vorgesetzt bekommen, im Nachmittags-Malkurs das Thema, im Klavierunterricht das Stück und im Museum basteln dann alle mehr oder weniger dasselbe. All das hat schon auch was für sich.
Doch wie wäre es, wenn ich darauf vertraue, dass das Sozialgefüge des Kindergartens, ausreichend Förderung ist. Dass die Spiele, die dort gespielt, die Themen, die dort besprochen werden, die Ausflüge usw. dass all das viel ist, verglichen mit der Förderung eines Kindes, das in einem kleinen Dorf aufwächst.
Auch Schule bietet viel Anregung, soziales Lernen, Lehrinhalte, Lernstoff, Themen. Je nach Lehrer_in gibt es Vorlieben: Museumsbesuche, ein Fable für Natur, Theater oder Musik.
Und zu Hause gibt’s noch mehr Anregungen.
Gespräche mit Eltern, zuhören wie sich die Erwachsenen miteinander unterhalten: Über Job und Politik, über Familiengeschichten, den nächsten Urlaub und den Rosenkrieg von der Freundin nebenan. Geschichten über Leben und Tod und all das dazwischen, die das Kind anregen und ihre/seine Weltsicht erweitern. Möglicherweise ist es auch ein familiäres Umfeld, in dem gelesen wird oder das Kinderlied als Abendritual gute Dienste leistet. Und dann sind da noch all die Medien, die zum Aufwachsen unserer Kinder dazugehören.
Wie viel Anregung braucht ein Kind über Kindergarten, Schule und Kindergeflechte hinaus?
Oder: Wie viel Ruhe braucht ein Kind, bei all diesen Eindrücken, um zur Ruhe zu kommen, um die Eindrücke zu verarbeiten. Ereignislose Zeit um eine stimmige konsistente Weltsicht entwickeln zu können. Zeit um sich in dem Wirrwarr der Eindrücke, vielleicht auch Chaos, das unsere urbane Welt für Kinder bedeuten mag, zurecht zu finden. Vielleicht müssen wir umdenken. Der urbane Dschungel ist um kein bisschen weniger spannend, anregend und aufregend, als es früher die Gstätten oder die dörfliche Umgebung war. Die Spiele sind anders aber um nichts weniger wichtig geworden. Was aber meiner Meinung nach das Spiel kennzeichnet, ist die Selbstbestimmung des Kindes bzw. des Kindergeflechtes, was wann wo und wie gespielt wird.
Und ja mir ist klar, dass es auch vernachlässigte Kinder gibt, Kinder, die wenig gefördert werden, wo es keine Kurse, Museumsbesuche oder Theaterabonnements gibt. Neben steigenden Depressionszahlen und Bevölkerungsanteilen an und unter der Armutsgrenze gibt es wohl noch viele Hintergründe dafür. Dies ist ein anderes Problem. Dazu vielleicht ein andermal.
BriG
Fotos (c) Brigitte Vogt