Heute ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen. Er wurde von den Vereinten Nationen ausgerufen, um wenigstens an diesem einen Tag Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei geht es auch um das Bewusstsein der Öffentlichkeit für deren Probleme. Dieser Tag soll auch auf die Würde, die Rechte und das Wohlergehen von Menschen mit Behinderung hinweisen. Wobei uns die Schwierigkeit der damit einhergehenden Etikettierung einer Person als behindert oder beeinträchtigt bewusst ist.
Selbstverständlich sollte das Thema Inklusion eigentlich in jedem Kinderbuch abbildet werden. Kinderbücher dazu stellen wir euch hier vor. In diesem Beitrag haben wir uns allerdings auf die Suche gemacht, nach Büchern, die Menschen oder Kinder mit Behinderungen in den Mittelpunkt stellen.
Sichtbarkeit von Behinderungen im Kinderbuch- Warum Abbildungen von Bedeutung sind
Letztes Semester habe ich mich ein wenig in die Problematik von Sichtbarkeit vertieft.
- Wer wird wie dargestellt und wer nicht?
- Oder wer darf in einer Gesellschaft sichtbar sein und wer wird ausgeblendet?
- Und wer bestimmt, wer wie dargestellt oder vielleicht auch verzerrt abgebildet wird?
- Und was hat das alles für Folgen in Bezug auf Inklusion?
Das sind keine unwesentlichen Fragen. Vor weniger als 100 Jahren waren Frauen nicht an Unis zugelassen. Sie durften im Universitären Umfeld nicht sichtbar sein. Eine ähnliche Problematik zeigt der Film Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen auf, wo es um die Sichtbarkeit der Leistung von Schwarzen Frauen z. B. beim Apollo-Programm geht. Negativ Beispiele, wo Sichtbarkeit der Verzerrung diente, kennen wir nicht nur aus der Geschichte des Nationalsozialismus.
Wenn also in unserer Gesellschaft Menschen mit Behinderungen wenig sichtbar sind, so heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Sondern nur, dass unsere Gesellschaft hier Sichtbarkeit verweigert. Jemanden sichtbar zu machen, setzt voraus, dass man wahrnimmt, das auch dieser Mensch ein geschätzter Teil unserer Gesellschaft ist. Vielleicht ist Sichtbarkeit, im Sinne von wertschätzender Abbildung z. B. von Menschen mit Behinderungen insofern ein ganz wesentlicher Schritt, nicht nur in Kinderbüchern sondern auch im Straßenbild, beim Kindergeburtstag oder in der Werbung…
Behinderungen im Kinderbuch
Die folgenden Bücher beschäftigen sich intensiver mit dem Thema und stellen Behinderungen und Beeinträchtigungen im Kinderbuch dar. Manche davon wurden von Menschen geschrieben, denen das Thema irgendwie wichtig wurde: Andere Bücher sind von Menschen, die selbst unter einer Beeinträchtigung leiden oder von Angehörigen.
Family Coloring Book. Leona Games. edition assemblage, ab 2 Jahren
Dies ist ein klassisches Ausmalbuch, in welchem auf 32 Seiten unterschiedliche Familien dargestellt sind, die zur Auseinandersetzung mit der Vielfalt von Familien anregen. Dabei ist auch ein Kind und ein alter Mann im Rollstuhl dargestellt.
Lauf, kleiner Spatz! Anna Zeh, Brigitte Weininger. Tyrolia Verlag, ab 4 Jahren
Das Buch Lauf, kleiner Spatz! erzählt die Geschichte von Spatz und Maus. Die beiden sind beste Freunde und spielen am liebsten den ganzen Tag zusammen. Eines Tages werden sie von einem Gewitter überrascht und bringen sich beide schnell in Sicherheit,. Dabei wird Spatz im Flug vom Wind erfasst und stürzt ab. Seine Flügel sind gebrochen. Der alte Rabe verarztet ihn und schon bald schmieden Spatz und Maus Pläne was sie alles machen wollen wenn Spatz wieder fliegen kann. Doch Spatz wird nie wieder fliegen können.
Im Buch wird sehr schön die Reaktion auf so einen Schicksalsschlag gezeigt. Zuerst fällt Spatz in ein tiefes Loch. Wer ist er denn wenn er nicht mehr fliegen kann? Ist er dann überhaupt noch ein Vogel? Doch Maus hilft ihm da raus. Zusammen trainieren sie jeden Tag und Spatz Beine werden immer stärker. Zusammen finden sie neue Wege zusammen zu spielen und Spaß zu haben.
Das Mädchen, das in Bildern dachte. Julia Finley Mosca, Doniel Rieley. Kids in Balance
Hier wird das Leben von Temple Grandin beschrieben, die autistisch ist. Das Buch ist in flotten Reimen geschrieben und stellt einerseits viele Symptome dar, wie Menschen mit Autismus die Welt erleben. Doch auch, was alles möglich ist, wenn man Menschen um sich hat, die einem unterstützen. Dass dabei auch schwierige Themen wie Normalitätsdiskurse, Mobbing und Aggressionen finde ich hilfreich, um sie besprechbar zu machen.
Lilly gehört dazu! Irmgard Partmann. Coppenrath Verlag, ab 5 Jahren
Dieses Buch handelt von Lilly, der jüngeren Schwester der Erzählerin. Lilly hat das Down Syndrom, aber dabei stellt die Erzählerin klar: “Lilli ist nicht krank, sie ist nur anders als andere.” Manche Dinge kann sie nicht, z. B. ihren Namen schreiben. Aber andere Dinge kann sie gut, z. B. schaukeln, trösten oder Quatsch machen und lachen.
Ein Buch, welches die Gemeinsamkeiten, die Zugehörigkeit, Liebe und Selbstverständlichkeit in den Mittelpunkt rückt, der die Wahrnehmung von Kindern so oft prägt. Fazit ist daher auch: “Lilly ist einfach Lilly. Ich kann mir keine andere Schwester vorstellen. Ich habe sie sehr lieb.” Unaufgeregt, freundlich und ein Buch, das hilft, Berührungsängste abzubauen. Daher sollte es in jedem Kindergarten vorkommen.
Ich bin wie der Fluss. Jordan Scott, Sydney Smith. Aladin Verlag, ab 5 Jahren
Diese Buch handelt von einem Jungen, der stottert. Der Ich-Erzähler führt behutsam in sein Erleben ein. Man empfindet unwillkürlich mit ihm, wenn die Worte feststecken und alle auf seinen Mund starren. Doch sein Vater kennt ihn gut und weiß, was an so einem Tag hilft: Stille, Natur und ein Bild, das dem Sohn hilft, sein eigenes Stottern besser zu verstehen. Mit diesem Bild gelingt es ihm, einen besseren Zugang zu Sprache zu finden und über sein Stottern reden zu können.
Ich finde dieses Buch wirklich bemerkenswert. Mit wenig Text wurde hier ein Weg gefunden, etwas sehr Intimes darzustellen und dabei Einblicke zu schaffen, die nur jemand haben kann, der weiß, wovon er spricht. Am Schluss des Buch beschreibt Jordan Scott auf einer Seite, wie es ihm erging, und auch, wie hilfreich das Bild des Vaters für ihn war. “Ein Stottern ist niemals nur ein Stottern, sondern eine sehr intime Angelegenheit…” Ein Buch, das Selbstermächtigung bietet und darstellt.
Wir bauen eine Hütte! Bernadette Vermeij, Gitte Spee. Moritz Verlag, ab 5 Jahren
Häschen ist voller Vorfreude. Er möchte mit seinen Freund_innen eine Hütte bauen. Doch die laufen alle davon nachdem er ihnen von seiner Idee erzählt hat. Davor sagen sie noch was, aber Häschen hört nicht so gut und versteht nicht, was sie ihm sagen. Das Buch zeigt sehr anschaulich, wie verwirrend es sein kann, wenn Kommunikation nicht so einfach möglich ist.
Ich habe selbst einen Freund mit einer Schwerhörigkeit. Diese kann man zwar mit einem Hörgerät ausgleichen, aber ganz dasselbe wie ein gut funktionierendes Ohr ist es nicht. Menschenmengen oder Wind beeinträchtigen sein Hören deutlich. Wenn wir zusammen unterwegs sind, fallen mir diese Einschränkungen auch auf und wir können gemeinsam Lösungen finden.
Dieses nette und lieb illustrierte Kinderbuch zeigt diese Probleme einfühlsam und gleichzeitig lustig auf. So kann es hoffentlich seine Leser_innen ein bisschen verständnisvoller im Umgang mit hörbeeinträchtigten Personen machen. Ob es nun andere Kinder sind oder die eigenen Großeltern.
Alle behindert! Horst Klein, Monika Osberghaus, Klett Kinderbuch, ab 7 Jahren
Eines meiner Lieblings-Lehrbücher der Psychiatrie war das Buch “Irren ist menschlich” das jede Erkrankung als Landschaft beschreibt. Dabei sind die Landschaften normal, menschlich, allen vertraut, lediglich die Ausprägung kann manchmal so stark sein, dass jemand darunter leidet. Diesen wertschätzenden Ansatz habe ich in diesem Kinderbuch wiedergefunden.
Horst Klein hat einen Sohn mit Down Syndrom. Die Unsicherheit, Angst aber auch Neugier der anderen Kinder hat ihn dazu bewogen, ein Kinderbuch über Beeinträchtigungen zu schreiben. Jede “Behinderung” wird dabei wie ein Steckbrief einer Person beschrieben. Dabei kommen ADHC, das schüchterne oder dicke Kind aber ein Kind mit Down Syndrom oder Spina Bifida vor. Das Buch solltet ihr euch unbedingt einmal bei den Büchereien ausborgen, es ist fast in jeder Zweigstelle vorhanden. Wo würdet ihr euch einreihen? Welche Beeinträchtigungen sind euch vertraut? Vielleicht habt ihr auch Lust, dass jeder in eurer Familien die Mitmach-Seite am Schluss ausfüllt. Besonders fein finde ich, dass diese Seite, wie allen anderen Seiten, mit der Frage nach dem Vorteil der “Behinderung” abschließt.
Noch mehr Kinderbuch-Empfehlungen zu Inklusion
- Hier findet ihr die Kinderbuchempfehlungen von Raul Krauthausen.
- Und hier stellt Christine Brasch weitere neun Kinderbücher vor, die Kinder mit Behinderungen thematisieren und die uns helfen sollen, Berührungsängste abzubauen und Fragen unserer Kinder zu beantworten.
- Kinderbücher für Menschen mit Sehbeeinträchtigung stellt anders.sehen.de hier vor. Fein ist, dass Kinder Bücher vorlesen und beschreiben, warum es ihnen gefällt.
- Siebenkilopaket stellt hier Kinderbücher zu ganz unterschiedlichen Behinderungen vor.
- Weitere Kinderbuch-Empfehlungen, die sich mit der Sichtbarkeit von Behinderungen und Beeinträchtigungen beschäftigen, findet ihr hier. Das Buch Just like me haben wir schon an anderer Stelle beschrieben.
- Der buuu.ch Blog stellt diverse Kinderbücher in den Vordergrund, auch zum Thema Behinderung findet sich dort einiges. Einen passenden Podcast gibt es auch!
- Mut-Mach-Bücher, Bücher zum Thema Resilienz, zu Body Positivy und viel mehr: All unsere Buchtipps sind unter dem Schlagwort Bücher gesammelt.
BriG, LuDi
Fotos (c) Brigitte Vogt, LuDi, Aladin Verlag, Carlsen Verlag, Coppenrath Verlag, edition assemblage, Klett Kinderbuch, Moritz Verlag, Tyrolia Verlag,
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